Prof. Dr. Wolf-D. Bukow
Universität Siegen
Die aktuelle Flüchtlingssituation stellt zweifellos eine ungewöhnliche Herausforderung dar: es könnten dieses Jahr über eine Million Flüchtlinge werden, die größte Zahl seit langem – selbst wenn man bedenkt, dass wegen der auch für Deutschland typischen hohen Fluktuation “unter dem Strich” längerfristig eine solche Zuwanderung gar nicht so ins Gewicht fällt. Die Herausforderung besteht deshalb im Augenblick vor allem darin, dass so viele Menschen in so kurzer Zeit und so unvorbereitet kommen. Das gegenwärtig sehr hohe Engagement der Zivilgesellschaft für diese Newcomer zeigt, dass man diese Herausforderung konstruktiv angenommen hat. Freilich wäre viel gewonnen, wenn in der Gesellschaft ein wirklich fundiertes und umfassendes Verständnis über die aktuellen Migrationsprozesse und damit auch über entsprechend bedachte Strategien zur Verfügen stehen würden. Genau daran fehlt es jedoch noch, obgleich Mobilität und Diversität und damit auch die Migration im Kontext der Globalisierung und Technologisierung schon seit langem global massiv zu nehmen. Und man hätte bedenken sollen, dass Mobilität in der Form der Migration letztlich nirgends, auch nicht durch die EU-Grenzen, aufzuhalten ist. Man wäre auf die zu erwartende zunehmende Einwanderung besser vorbereitet gewesen.
Spätestens jetzt, wo wir mit vielen neuen Flüchtlingen konfrontiert sind, ist es entscheidend, die Grundlagen der bisherigen Migrationspolitik zu überdenken und eine der aktuellen globalgesellschaftlichen Wirklichkeit angemessene Mobilitäts- und Diversitätspolitik zu entwickeln.
Wie stehen die Chancen für das dringend gebotene neue, sachadäquate Mobilitäts- und Diversitätsverständnis? Zunächst einmal ist festzuhalten: Wenn im urbanen Alltag die Globalisierung und ihre Auswirkungen und damit auch die zunehmende Mobilität und Diversität nicht mehr länger verdrängt werden und wenn man sich wirklich konstruktiv um die Newcomer bemüht, so ist das vor allem der seit einigen Jahren propagierten, durchaus gut gemeinten einwanderungsfreundlichen “Willkommenskultur” zu verdanken. Sie ist also ein Gewinn. Das Problem ist nur, dass die Motive dafür in der Regel rein pragmatischer Natur waren und sind.
So ging es letztlich nur darum, z.B. Lösungen für überkommene Alltagsprobleme wie das Schrumpfen von Dörfern und ganzen Städten sowie einen immer offenkundiger werdenden Fachkräftemangel zu finden und nicht darum, Antworten auf einen sich abzeichnenden globalen Wandel zu finden.
Das Problem sind nicht so sehr die Motive selbst als vielmehr deren Verankerung, die zum Problem werden. Die Motive resultieren aus nationalem Eigeninteresse, sind national-egoistisch und nicht globalgesellschaftlich verankert. Daran hat sich im Grunde bis heute nicht viel geändert, auch wenn die Migration als solche jetzt geradezu schlagartig bei großen Teilen der Bevölkerung angekommen Einerseits hat sich die Willkommenskultur hier noch einmal bewährt, weil sie auch in der aktuellen Situation für eine konstruktive Debatte über Einwanderung sorgte und den Boden für das augenblickliche Engagement für die Flüchtlinge bereitet hat, aber anderseits hat sie nicht zu einer wirklichen, sachadäquaten Neuorientierung geführt. Dieses Potential hat sie nicht, solange sie an überkommenen Eigeninteressen festhält. Sie wird weiter auf “Integration” setzen und wird weiter danach fragen, wer ins nationale Bild passt und wer nicht.
Ein wirklicher Neuansatz ist von dort aus noch nicht zu erwarten. Dass es sich bei der Einwanderung eigentlich um nichts als Mobilität – um Mobilität innerhalb einer von der Globalisierung insgesamt geprägten urbanen Welt – handelt und bei der gegenwärtigen Situation um nichts anderes als um einen im Rahmen der aktuellen Globalisierung und Technisierung extrem beschleunigten Prozess , setzt eine gänzlich neu ansetzende Sichtweise voraus. Zwei Punkte sind also entscheidend:
- Spätestens mit der aktuellen Flüchtlingssituation wird es erforderlich, sich der globalisierten Wirklichkeit zu stellen und zu realisieren, dass uns die globale Wirklichkeit längst erreicht hat, wir längst in einer extrem globalisierten urbanen Alltagswelt leben, wo der Nationalstaat weniger denn je den Ton angibt.
- Damit bekommen die Flüchtlinge einen ganz anderen Stellenwert. Sie sind längst nicht mehr Ursachen, sondern nur noch ein Begleitumstand des globalen Wandels. Der Flüchtling bewegt sich innerhalb der globalisierten Gesellschaft. Flüchtlinge verstärken im Zielland dementsprechend allenfalls bereits längst vorhandene Wandlungsprozesse. Sie sind nichts anderes als Newcomer, denen ein gleichberechtigter Platz innerhalb einer sie selbstverständlich mit umfassenden Gesellschaft eingeräumt werden muss.
Die Willkommenskultur muss jetzt in eine wirklich umfassende und neu orientierte Mobilitäts- und Diversitätspolitik transformiert werden. Dabei geht es auch nicht mehr um “Integration”, sondern um “Inklusion”, – also eine Politik, in der der Newcomer nachhaltig und umfassend in die vorhandenen Gegebenheiten (Arbeiten, Wohnen, Bildung, Gesundheitsversorgung usw.) bis hin zu den bereits vorhandenen diversen Milieus einbezogen und damit gleichstellt wird.
Der Umstellung der Integrationspolitik auf eine Inklusionspolitik stehen eine Reihe von Hindernissen im Weg, die vor allem damit zu tun haben, dass Mobilität und Diversität immer noch als etwas Fremdes, ja Gefährliches betrachtet werden, statt sich der Normalität einer längst globalisierten und diversifizierten Alltagswelt zu stellen.
Wenn man die Aufmerksamkeit auf den alles umfassenden, uns selbst genauso wie den Anderen betreffenden globalgesellschaftlichen Wandel lenkt, dann werden Mobilität und Diversität zu alltäglichen und allgegenwärtigen Erscheinungen und Einwanderer zu Newcomern. Positionen, die auf einem in sich geschlossenen, wohleingegrenzten Gesellschaftsbild beharren und dann den Einwanderer zum Fremden und ggf. auch zum Eindringling stilisieren, werden schnell zu massiven Hindernissen für die Neuformulierung einer angemessenen Mobilitäts- und Diversitätspolitik. Typisch dafür sind besonders zwei politische Bewegungen:
- Es gibt eine politische Bewegung, die sich dem sich abzeichnenden gesellschaftlichen Wandel offensichtlich fundamental verweigert. Exemplarisch ist das an den PEGIDA-Bewegungen zu beobachten. Viele haben sich hier in eine äußerst destruktive Haltung hinein gesteigert und beteiligen sich längst nicht nur an den entsprechenden rassistischen Kundgaben, sondern zunehmend auch an Brandstiftungen und scheinen sogar Mordversuche zu billigen. Sie berufen sich dabei auf nationalistische und – zunehmend – auf rassistische Traditionen und suchen den Anschluss an radikalnationalistische Konzepte, wie sie in Ungarn und neuerdings auch in Ländern wie Bulgarien, Rumänien und Serbien vertreten werden. Kulturalistische, nationalistische und rassistische Argumente werden eingesetzt, um sich die Welt so zurechtzulegen, dass man selbst der einzige Nutznießer bleibt. Diese Menschen verweigern sich jedem globalgesellschaftlichen Wandel, obwohl er auch für sie in vielerlei Hinsicht nicht nur längst unumkehrbar, sondern längst unabdingbar ist.
- Daneben gibt es eine weniger destruktiv ausgerichtete Bewegung. Sie polemisiert nicht grundsätzlich gegen jeden gesellschaftlichen Wandel, aber gegen die Einwanderung als solche und orientiert sich dabei weiter an der Logik der “Ausländerpolitik” des letzten Jahrhunderts. Mobilitäts- und Diversitätsaspekte werden hier nur akzeptiert, wenn sie zumindest langfristig unsichtbar werden. Es wird erwartet, dass sich Einwanderer in das überkommene Gesellschaftsverständnis fugenlos integrieren. Insoweit ist man zwar partiell mobilitätsoffen, zugleich aber grundsätzlich diversitäts- und damit inklusionsfeindlich. Man akzeptiert nicht den Anderen bzw. das Andere als anders, selbst wenn es im eigenen Umfeld längst beheimatet ist. Diese Bewegung ist in der Mitte der Gesellschaft verankert und wird deshalb von vielen Politikern schon aus Populismus mit getragen.
Beide Bewegungen spiegeln ein lange überholtes Gesellschaftsbild. Die eine orientiert sich fundamentalistisch am mitteleuropäischen Nationalismus, die andere etwas pragmatischer an einer längst überholten Einwanderungspolitik. In der hier relevanten Argumentationslogik stimmt man letztlich überein, nur billigt man in der zweiten Bewegung dem Anderen unter bestimmten Bedingungen einen “Seitenwechsel” zu. In einem nationalistischen Gesellschaftsbild ist das eigentlich nichts als “Arisierung”.
Deutlich ist, dass wir es hier mit den Auswirkungen eines über ein Jahrhunderte hinweg durchgehaltenen, abgeschlossenen und völlig abgehobenen Gesellschaftsbild zu tun haben, das von einem nationalistischen Denken gespeist wird und das fast automatisch zu einer entsprechenden mobilitäts- und diversitätsfeindlichen Politik führt. Man ignoriert die gesellschaftliche Wirklichkeit. Das mag so lange folgenlos geblieben sein, wie man sich auf seinen Alltag beschränkt hat. Aber angesichts der aktuellen Entwicklung lässt sich die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht mehr so einfach ausblenden. Es ist quasi ein Wirklichkeitsschock, der irrationale Ängste und tiefsitzende Rassismen mobilisiert Man fühlt sich provoziert und sieht sich legitimiert, zu kämpfen. Entscheidend ist für beide Bewegungen die Orientierung an einer heilen Welt, die sich zunehmend als Fiktion erweist. Statt in dieser Situation aber seine Sicht der Dinge an die Wirklichkeit anzupassen versucht man die Wirklichkeit mit aller Kraft an seine Vorstellungen anzupassen. Offenbar sitzt der Nationalismus so tief, dass man nicht nur immun ist gegen jede Kritik, sondern zunehmend auch bereit ist, jede Radikalisierung in Richtung antisemitische, rassistische und antiziganistische Traditionen mit zu tragen. So ist es kein Wunder, wenn diese beiden Bewegungen weiterhin so viel Zustimmung finden.
Eine wirkliche Neukonzeptionalisierung kann nur gelingen, wenn die mit aktueller, massiver Einwanderung konfrontierte Bevölkerung erkennt, dass alle im selben Boot sitzen, dass alle den globalisierten Alltag teilen, nur dass eben die einen die mit ihm verknüpften Risiken erleiden, während die anderen dessen Vorteile genießen.
Um die Willkommenskultur neu auszurichten, ist eine verbesserte Einschätzung der globalgesellschaftlichen Wirklichkeit erforderlich. Dann wird schnell klar, dass es bei einer angemessenen Mobilitäts- und Diversitätspolitik nicht länger darum gehen kann, einen Fremden zu identifizieren und Integrationsbedingungen zu definieren, sondern darum, dem Newcomer die gleichen Chancen zu ermöglichen, wie man sie selbst für sich in Anspruch nimmt, also Inklusion zu sichern. Drei Punkte sind wichtig:
- Die Globalisierung hat Dank der technologischen Entwicklungen eine Dynamik entwickelt, die den Alltag weltweit durchdrungen hat. Sie hat es aber auch im Rahmen der Globalisierung der Sozialstruktur und der Weltwirtschaft ermöglicht, die Chancen und Risiken extrem ungleich zuzuteilen. Die aktuellen Flucht- und Migrationsprozesse sind exakt Ausdruck dieser doppelten Dynamik von Globalisierung und Ungleichheit. Solange es keinen Ausgleich vor Ort gibt, werden vor allem diejenigen, die für sich selbst und ihre Kinder eine Zukunft wollen, dieser ungleichen Verteilung zu entkommen versuchen. Es ist eine Frage der Fairness und Gerechtigkeit, ihnen deshalb bei uns die gleichen Chancen einzuräumen.
- Stadtgesellschaften müssen von allen nationalen Mythen und nationalstaatlicher Bevormundung befreit werden, weil sie nicht nur anders als die Nationalstaaten schon immer die Fähigkeit besitzen, mit Mobilität und Diversität umzugehen, sondern weil sie speziell dazu entwickelt wurden und schon früh die entsprechenden Kompetenzen erworben haben, um immer wieder die Effekte von Mobilität und Diversität zu veralltäglichen. Diese “soziale Grammatik urbanen Zusammenlebens” hat sich weltweit längst bis hin zu den heutigen Megacities bewährt und muss dem Einzelnen nur einmal wirklich bewusst gemacht werden. Es geht damit nur noch darum, sich der Bedingungen urbanen Zusammenlebens zu vergewissern, um die Newcomer angemessen, d.h. ihren Bedürfnissen entsprechend platzieren zu können. Das setzt freilich voraus, dass die Stadtgesellschaft bereit ist, die Newcomer sofort als Teil der Gesellschaft zu akzeptieren und sich im Rahmen der Stadtentwicklung und ihrer Dienstleistung entsprechend aufzustellen.
- Angesichts der massiv beschleunigten Umgestaltung des lokalen Fußabdrucks einer globalisierten urbanen Alltagswirklichkeit müssen Fairness und Gerechtigkeit viel grundsätzlicher und umfassender verankert werden. Es geht nicht nur darum, im Rahmen eines beschleunigten gesellschaftlichen Wandels die Rahmenbedingungen für den Umgang miteinander stabil zu halten, sondern auch darum, sie gerade dann im Blick zu behalten, wenn Newcomer auftreten. Sie ohne Rücksicht auf soziale, kulturelle, religiöse, sprachliche oder genderspezifische bzw. staatsbürgerschaftliche Eigenschaften zu inkludieren, ist sicherlich angesichts der Erfahrung, die wir auch so schon im Alltag mit Diversität machen, eine ganz besondere Herausforderung. Aber nur wenn sich die Stadtgesellschaft hier bewährt, hat sie eine Zukunft.
Die Einwanderung ist längst zu einem globalgesellschaftsinternen Phänomen, zu Mobilität geworden. Sie konfrontiert uns einmal mehr damit, den Umgang mit Mobilität und Diversität auf der Basis von Gerechtigkeit und Fairness entsprechend der aktuellen Dynamik neu auszurichten. Glücklicher Weise sind Stadtgesellschaften seit je auf den konstruktiven Umgang mit Mobilität und Diversität eingestellt. So kommt es jetzt darauf an, die entsprechenden urbanen Kompetenzen gezielt zu reaktivieren und den aktuellen Bedingungen entsprechend auszubauen. Damit werden nationalstaatliche Mythen, Grenzsicherungsmaßnahmen und andere Zumutungen belanglos und damit auch überflüssig. Unter einem solchen Vorzeichen erweist sich die Willkommenskultur als ein erster Schritt in die richtige Richtung.