Karl Brenke
DIW, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung
Deutschland ist derzeit mit einer Welle von Asylsuchenden konfrontiert wie noch nie in seiner Geschichte. Da wegen des Nationalsozialismus viele Deutsche ins Ausland fliehen musste, wurde das Recht auf Asyl im Grundgesetz festgehalten. Ein solcher gesetzlicher Anspruch findet sich in kaum einem Land. Die meisten Länder sind lediglich der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 beigetreten. In den Fünfziger und Sechziger Jahren blieb in der Bundesrepublik die Zahl der jährlichen Anträge auf Asyl fast immer weit unter 10.000. Ausnahmen waren der Volksaufstand in Ungarn 1956, in dessen Gefolge die Zahl der Anträge über diese Marke kletterte, sowie der gescheiterte “Prager Frühling” 1968. Zu deutlichen Zuwächsen kam es ab der zweiten Hälfte der Siebziger Jahre. Im Zuge der ersten Ölpreiskrise stieg die Arbeitslosigkeit stark an. Die Bundesregierung reagierte mit einem Stopp der Anwerbung von Gastarbeitern. Möglich war ab Ende 1973 der reguläre Zuzug von ausländischen Arbeitskräfte daher nur noch im Falle der Familienzusammenführung. Da mit dem Anwerbestopp ein wichtiger Zuwanderungskanal verschlossen war, kam es zur vermehrten Zuwanderung via Asyl – nicht zuletzt aus der Türkei. Im Jahr 1980 wurden erstmals mehr als 100.000 Asylanträge gezählt. Es gab aber auch äußere Anlässe für vermehrte Asylbegehren wie die Verhängung des Kriegsrechts in Polen.
Nach 1980 ließen die Asylwanderungen in die Bundesrepublik zunächst deutlich nach, um wenige Jahre später wieder anzuschwellen. Ein weiterer Grund der Asylsuche ergab sich aus dem Libanon-Krieg. Vorher nicht gekannte hohe Werte wurden Anfang der Neunziger Jahre erreicht. Dabei kamen die Kriege in Ex-Jugoslawien, der Zusammenbruch der Regime in Osteuropa und der Verfall der Sowjetunion zusammen. Im Jahr 1993 stieg die Zahl der Asylanträge auf über 400.000 – mehr als die Hälfte aller in der EU gestellten Anträge. Nach 1993 brach der Zustrom abrupt ab, denn die gesetzlichen Regelungen für die Asylgewährung waren geändert worden. Im Grundgesetz wurde der entsprechende Artikel ergänzt. Danach wurde nur noch denjenigen Personen politisches Asyl gewährt, die nicht über als sicher einzustufende Drittstaaten einreisten. In der zweiten Hälfte der Neunziger Jahre und im darauf folgenden Jahrzehnt ging die Zahl der Asylanträge in Deutschland nahezu stetig zurück. Erst ab Beginn dieser Dekade kam es wieder zu einem wachsenden asylbedingten Zuwanderungsstrom. Die vermehrte Wanderung begann zögerlich und beschleunigte sich dann enorm. Zu einer regelrechten Eskalation kam es im Laufe von 2015. Nach Schätzungen der zuständigen Behörden dürften von Januar bis September knapp 700.000 Asylsuchende über die Grenzen gekommen sein. Weil derzeit keine Anzeichen für ein Abebben des enorm angeschwollenen Flüchtlingsstrom erkennbar ist, dürfte die Grenze von einer Million in diesem Jahr deutlich überschritten werden. Deutschland würde damit den allergrößten Teil der Asylsuchenden in der EU aufnehmen.
Eine gemeinsame Asylpolitik innerhalb der EU gibt es faktisch nicht. Die allermeisten Staaten versuchen, den Zustrom von Flüchtlingen abzublocken. Einzelne Länder wie Dänemark oder Frankreich haben sogar ihre gesetzlichen Regelungen verändert. Schweden, das gemessen an der Einwohnerzahl bisher sehr viele Flüchtlinge aufnahm, hat soeben die Grenzen der Belastung verkündet. Andere Länder wie Polen haben das schon seit längerem signalisiert. Deutschland spielt dagegen eine Sonderrolle und hat erklärt, dass es keine Obergrenze für die Aufnahme von Asylbewerbern gäbe. Wenn die meisten Länder eine restriktive Asylpolitik verfolgen, nutzen die Asylsuchenden zwangsläufig die noch offenen Zuwanderungskanäle. Und weil zudem Deutschland nach außen hin Großzügigkeit angekündigt hat, ist es zum bevorzugten Ziel der Flüchtlinge geworden.
Die meisten Asylsuchenden nutzen die “Balkanroute”, kommen also über die Türkei, Griechenland, die Balkanstaaten und Österreich. Da sie nach Deutschland wollen, leiten die Länder auf dieser Route die Flüchtlinge bisher einfach weiter. Weil das in manchen Transitstaaten zu recht chaotischen Verhältnissen geführt hat, gab es entsprechende Gegenreaktionen. So hat Ungarn seine Grenzen befestigt und lässt keine Flüchtlinge mehr ins Land. Der Strom fließt daher nun über Kroatien und Slowenien. Diese Länder sehen sich ebenfalls überfordert und hoffen, dass durch die Einrichtung von Zwischenlagern auf der Balkanroute und bessere Grenzkontrollen die Asylwanderungen gesteuert werden können.
Es ist erstaunlich, dass eine solche Situation überhaupt entstehen konnte. Denn eigentlich gibt es auf EU-Ebene mit dem sog. Dubliner Verfahren eindeutige Regelungen: Flüchtlinge sind von dem Staat aufzunehmen, in dem sie erstmals die Grenzen der EU überschreiten. Wandern sie weiter, sollen sie dorthin zurückgeschickt werden. Diese Vereinbarung steht aber offenbar nur noch auf dem Papier. Im Falle Deutschlands ist die Rechtslage ebenfalls eindeutig: Asyl erhalten nur diejenigen Personen, die nicht über ein sicheres Drittland einreisen. Weil Deutschland fast von allen Seiten von anderen EU-Ländern umgeben ist, müssten demnach fast gar keine Asylbewerber aufgenommen werden. Die deutsche Politik hält sich allerdings nicht an die geltenden Gesetze. Das wird damit gerechtfertigt, dass innerhalb der EU die Grenzen der Mitgliedsstaaten nicht mehr kontrollierbar seien; Ungarn hat indes gerade den Gegenbeweis erbracht.
Angesichts der unübersichtlichen Situation sind die Informationen über die soziale Zusammensetzung der Asylsuchenden in Deutschland allenfalls für das erste Halbjahr 2015 verwendbar. Die Angaben sind dürftig; bekannt sind lediglich die Nationalität, das Geschlecht und das Alter – aber nicht die Ausbildung. Zwei Drittel der Asylbewerber sind männlich. Die herausragende Gruppe stellen Männer im Alter von 18 bis 34 Jahren (knapp 40 % aller Asylbewerber) dar; deren Zahl ist vier Mal so groß wie der der Frauen in der selben Altersgruppe. Sehr viel kleiner ist mit insgesamt 20% der Anteil der Personen mittleren Alters. Auch hier dominieren die Männer, wenngleich nicht so stark wie bei den jungen Erwachsenen. Ältere Asylsuchende gibt es indes kaum. Ein Sechstel schließlich sind Kinder.
Die Syrer stellen in Deutschland mit 18% die größte Flüchtlingsgruppe. Fast ebenso bedeutend waren im ersten Halbjahr 2015 die Kosovaren. Auch aus anderen nicht zur EU gehörenden Balkanländern (Albanien, Mazedonien, Serbien, Bosnien und Herzegowina) kam eine erheblich Zahl an Asylbewerbern – insgesamt entfiel auf diese Balkangebiete fast die Hälfte aller Asylanträge. Aus Vorderasien fallen neben den Syrern insbesondere Asylbewerber aus dem Irak und Afghanistan ins Gewicht – zusammen kam von Januar bis Juni aus Vorderasien ein Drittel aller Asylsuchenden. Abgesehen von Pakistan (6% aller Asylbewerber) spielt das übrige Asien spielt kaum eine Rolle. Mit 9% etwas größer ist der Anteil der Asylbewerber, die aus Afrika südlich der Sahara stammen – insbesondere aus Somalia, Eritrea und Nigeria. Anders als in früheren Zeiten sind Asylsuchende aus Osteuropa außerhalb der EU (Russland, Ukraine, Weißrussland) kaum von Relevanz.
Längst nicht alle Asylbewerber werden anerkannt und erhalten somit ein Aufenthaltsrecht sowie eine Arbeitserlaubnis für Deutschland. Im ersten Halbjahr 2015 wurden knapp 40% der Asylanträge positiv beschieden; das war zwar nicht die Mehrzahl, aber es waren immerhin 15 Prozentpunkte mehr als noch im Jahr 2010, als wenige Asylbewerber kamen. Asylanträge, die von Syrern und Irakern gestellt wurden, sind fast alle anerkannt worden. Von den Personen aus Eritrea erhielt die Mehrzahl ein Schutzrecht, von den Afghanen, Pakistanis und Nigerianern nur eine kleine Minderheit. Personen aus den nicht zur EU gehörenden Balkangebieten wurde in nahezu allen Fällen Asyl verweigert.
In vielen deutschen Medien wurde der Eindruck vermittelt, dass wegen der Alterung der Gesellschaft und eines vermeintlichen Fachkräftemangels der Flüchtlingsstrom von Vorteil sei. In dieser Hinsicht scheint Ernüchterung eingetreten zu sein. Denn es hat sich gezeigt, dass sich bei denjenigen Personen mit der Staatsangehörigkeit wichtiger Flüchtlingsgruppen die Arbeitslosigkeit trotz guter Konjunktur in Deutschland stark aufbaut. Zwar steigt bei ihnen auch die Zahl der Beschäftigten, die Zahl der Arbeitslosen aber viel stärker. Besonders ausgeprägt ist das bei den Syrern. Von 2012 – dem Beginn der aktuellen Flüchtlingswelle bis zum 1. Halbjahr 2015 nahm die Zahl der Beschäftigten um 5.000 oder 80% zu, die der Arbeitslosen aber um 23.000 oder 500%. Bei den Syrern beläuft sich inzwischen die Arbeitslosenquote auf etwa 70%. Nur wenig besser sieht es bei denjenigen Personen aus, die aus dem Irak, aus Afghanistan, Somalia, Eritrea. Pakistan oder Nigeria stammen. Es ist damit zu rechnen, dass wegen der Asylwanderungen die Zahl der Arbeitslosen nach fünf Jahren des Rückgangs nunmehr wieder zunimmt. Entsprechend wird es aus den Flüchtlingsländern noch mehr Bezieher von Sozialleistungen geben.
Zum einen wird die Integration in den Arbeitsmarkt durch fehlende Deutschkenntnisse behindert. Zum anderen konnte nicht erwartet werden, dass Personen aus Schwellen- oder Entwicklungsländern über die Qualifikationen verfügen, die in einem hoch entwickelten Industrieland wie Deutschland nachgefragt werden. Vermutlich haben viele anerkannten Flüchtlinge überhaupt keine Berufsausbildung. Die meisten dürften daher wohl nur – zumindest in ihrer ersten Zeit in Deutschland – für einfache Jobs einsetzbar sein. Gerade hier ist aber die Arbeitsmarktlage angespannt. Solche Jobs werden dem Trend nach immer weniger, und fast die Hälfte aller Arbeitslosen in der Bundesrepublik hat keine Berufsausbildung – kommt also nur für einfache Arbeit infrage. Besonders groß ist der Anteil unter den schon länger in Deutschland lebenden Migrantengruppen. Durch die Asylwanderungen dürfte sich besonders für sie die Konkurrenz um einen Job und das Risiko, arbeitslos zu werden oder länger zu bleiben, verstärken.