Prof. Dr. Jochen Oltmer
Universität Osnabrück
Das Europa des Zweiten Weltkriegs zählte rund 60 Millionen Flüchtlinge, Vertriebene und Deportierte. Weitere 25 Millionen kamen mit und unmittelbar nach Kriegsende hinzu. Darunter befanden sich ca. 14 Millionen Deutsche, die in der Endphase des Krieges vor den näher rückenden Fronten im Osten nach Westen flohen oder nach Kriegsende insbesondere aus Polen und der Tschechoslowakei in das nunmehr deutlich verkleinerte Rest-Deutschland der vier alliierten Besatzungszonen vertrieben wurden. Hier gab es keine gleichmäßige Verteilung. Ländlich geprägte Gebiete mussten weitaus mehr Flüchtlinge und Vertriebene aufnehmen als die vor allem durch Luftangriffe häufig schwer zerstörten städtisch-industriellen Ballungsräume. Auf dem Land schienen die Wohnungssituation und die Versorgungsmöglichkeiten mit Lebensmitteln besser zu sein. Der Osten Deutschlands war von der Zuwanderung stärker betroffen als der Westen, und innerhalb der Besatzungszonen waren wiederum die östlichen Gebiete stärker belastet als die westlichen. Ende 1947 lag der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen an der Gesamtbevölkerung in der sowjetischen Besatzungszone bei 24,3 Prozent. Die US-Zone blieb demgegenüber mit 17,7 Prozent ebenso zurück wie die britische Besatzungszone mit 14,5 Prozent.
Flucht und Vertreibung führten zu einem durch vielfältige Konflikte gekennzeichneten Prozess der Integration, der lange währte, obgleich die Zuwanderer entweder über eine deutsche Staatsangehörigkeit verfügten oder diese ihnen rasch zugewiesen wurde. Vielen Zeitgenossen schienen die Herausforderungen einer starken Zuwanderung in einem durch massive Zerstörungen gekennzeichneten Nachkriegsdeutschland kaum lösbar. Immerhin waren mehr als vier Millionen Wohnungen ganz oder teilweise zerstört. Spannungen und Konflikte zwischen Einheimischen und Flüchtlingen resultierten deshalb zunächst meist aus der Unterkunftsfrage: Gab es keine freiwillige Abgabe von Wohnraum, reagierten deutsche und alliierte Dienststellen – im Laufe der Zeit immer öfter – mit Zwangseinweisungen. Häufig wurden Abstellkammern, Ställe oder andere ungeeignete Räume mit spartanischer Ausstattung provisorisch und primitiv als Unterkunft ganzer Familien hergerichtet. Die Zeitgenossen sprachen von ›Notwohnungen‹.
Auseinandersetzungen in der Zwangsgemeinschaft von Einheimischen und Zuwanderern gab es allenthalben – ob es um die gemeinsame Nutzung der Küche ging oder um die Bereitstellung von Hausrat: Allein im Jahre 1946 beschwerten sich beispielsweise in Brandenburg mehr als 45.000 Flüchtlinge und Vertriebene schriftlich bei der zuständigen Behörde über alltägliche Konflikte mit Einheimischen. Bei einer repräsentativen Umfrage in den Ländern der US-Besatzungszone waren sich 1949 insgesamt 61 Prozent der befragten Einheimischen einig: Flüchtlinge und Vertriebene seien „Störenfriede“. Verstärkt wurden diese Verteilungskonflikte durch vielfältige kulturelle Grenzziehungen und Auseinandersetzungen: Traditionen, Gebräuche, Lebensstile und Identitäten unterschieden sich, Katholiken trafen auf Protestanten, Stadt- auf Landbewohner, Angehörige deutscher Minderheiten, die zum Teil seit Jahrhundert fernab von Deutschland gelebt hatten, auf traditionsbewusste Einheimische. Verschärfend wirkten tief verankerte Vorurteile gegen Menschen aus ›dem Osten‹, die auf die Flüchtlinge und Vertriebenen projiziert wurden.
Für die Flüchtlinge und Vertriebenen bedeutete die Migration einen Statusverlust: 1950 hatte gerade einmal ein Viertel der 2,6 Millionen Haushalte von Flüchtlingen und Vertriebenen eine eigene abgeschlossene Wohnung. Zwei Drittel lebten zur Untermiete und ein Zehntel in ›Notwohnungen‹ oder Lagern. Im September 1948 stellten Flüchtlinge und Vertriebene beispielsweise in Niedersachsen noch 61 Prozent aller Sozialhilfeempfänger. Die Zahl der Erwerbslosen lag in Westdeutschland 1950 unter den Zuwanderern dreifach höher als unter den Einheimischen. Es dauerte Jahrzehnte, bis die Zuwanderer im Blick auf die beruflichen Positionen, die finanzielle Ausstattung und die Wohnverhältnisse das Niveau der Einheimischen erreichten. Auch in anderen Bereichen lassen sich Faktoren finden, die auf eine lange Dauer der Integration hindeuten: So traten Heiratsverbindungen zwischen Flüchtlingen und Vertriebenen einerseits und Einheimischen andererseits zunächst relativ selten auf. Erst in der zweiten Generation, also bei den Kindern, änderte sich dies.
Die Hochkonjunktur des ›Wirtschaftswunders‹ seit Anfang der 1950er Jahre erleichterte grundlegend die wirtschaftliche und soziale Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen. Gleichzeitig bildeten sie ein qualifiziertes Arbeitskräftepotenzial, das das ›Wirtschaftswunder‹ in erheblichem Maße mittrug. Dabei prägte sich allerdings die für viele Einwanderergruppen typische Unterschichtung aus: Flüchtlinge und Vertriebene übernahmen hauptsächlich statusniedrige berufliche Positionen und verfügten dementsprechend auch über geringere Einkünfte. Zwar ergaben sich für viele von ihnen vor allem in den 1960er Jahren Aufstiegsmöglichkeiten, dennoch war auch Anfang der 1970er Jahre der durch die Gewaltmigration eingetretene Statusverlust weiterhin nicht vollständig kompensiert.
Staatliche Eingriffe trugen zur Integration bei. Bereits unmittelbar nach Kriegsende etablierte sich eine Sonderverwaltung für Flüchtlinge. Sie sollte für Wohnraum, Versorgungsgüter und Arbeit sorgen. Im Angesicht der schweren Verteilungskonflikte der unmittelbaren Nachkriegszeit galten vielen Einheimischen aber die Maßnahmen der Flüchtlingsbehörden und die gesetzlichen Sonderregelungen als Privilegierung der Flüchtlinge und Vertriebenen. Das erklärt auch zum Teil lautstarke Kritik gegenüber der gesetzlichen Verankerung von Unterstützungsleistungen, wie insbesondere das im August 1949 in Westdeutschland verabschiedete ›Soforthilfegesetz‹ und das 1952 verabschiedete ›Lastenausgleichsgesetz‹, das Entschädigung von Vermögensverlusten bot.
Das Reden und Schreiben über Flucht und Vertreibung ist in der Geschichte der Bundesrepublik nie mit einem Tabu belegt gewesen. Zahlreiche Gedenkveranstaltungen, Debatten im Bundestag, Sonderbriefmarken, wissenschaftliche Publikationen, Romane, Ausstellungen, Filme, Fernsehdokumentation und Denkmäler dokumentieren vielmehr die stete öffentliche Erinnerung an Flucht und Vertreibung. Allerdings hatte die Erinnerung Lücken: Mindestens bis in die 1980er Jahre blieben die Formen und Folgen der deutschen Eroberungszüge im Zweiten Weltkrieg als zentrale Voraussetzung für Flucht und Vertreibung meist unerwähnt. Wenn Deutsche mit den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges und mit deutschen Massenmorden konfrontiert wurden, dann sollte der Hinweis auf ›Vertreibungsverbrechen‹ und auf von Deutschen erlittenes Unrecht relativierend wirken und ein moralisches Gegengewicht bieten. Lange nicht in den Fokus geriet auch die Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen und die Tatsache, dass ihnen die Einheimischen anfangs nur selten solidarisch und hilfsbereit begegneten, sodass Ausgrenzung für die Zuwanderer zum Alltag gehörte. Damit blieb die öffentliche Erinnerung an Flucht und Vertreibung aus politischen Gründen insgesamt ausgesprochen selektiv: Das woran in der Öffentlichkeit als Flucht und Vertreibung erinnert wurde, hatte durch das Verschweigen der Bezüge zum Zweiten Weltkrieg keine Vorgeschichte und durch das Verschweigen der Probleme der Integration auch keine Folgen. Sie hatte nicht einmal Menschen zum Gegenstand, sondern nur Opfer.
Literatur:
– Beer, Mathias: Flucht und Vertreibung der Deutschen, München 2011.
– Kossert, Andreas: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, 4. Aufl. München 2009.
– Oltmer, Jochen: Migration im 19. und 20. Jahrhundert, 2. Aufl. München 2013.
– Piskorski, Jan M.: Die Verjagten. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts, Berlin 2013.