Inklusion meint grundsätzlich alle Menschen, meint also nicht speziell beeinträchtigte sondern alle von Ausschluss bedrohte Menschen. Dass Inklusion heute gerade in Bezug auf die Behindertenrechtskonvention der UNO (UN BRK) diskutiert wird, liegt daran, dass diese Konvention die Inklusion auch für Menschen mit Beeinträchtigungen fordert und diese Gruppe letztlich die Probe dafür darstellt, ob einer Gesellschaft Inklusion wirklich vollständig gelingt.
Ich habe mich mit der Frage, mit zum Teil nicht sprechenden schwer beeinträchtigten oder tiefgreifend entwicklunsgestörten Menschen einen gemeinsamen Begegnungsraum zu finden seit nun mehr fünfundzwanzig Jahren beschäftigt und möchte Ihnen aus dieser Sicht meine Überlegungen zum Wert kultureller Vielfalt vortragen.
Die Lebenssituation von Menschen zu verstehen, deren Leben unter so besonderen Bedingungen stattfindet, ist intuitiv, aus dem Herzen heraus nicht möglich. Wie sollte man es intuitiv als für diesen Menschen als sinnvoll ansehen, wenn er sich immer wieder an den Kopf schlägt? Es ist deshalb für diese Arbeit notwendig ein Grundverständnis für menschliches Verhalten und menschliche Entwicklung zu entwickeln, das wirklich für alle Menschen zutrifft und das es ermöglicht jedes Verhalten als für diesen Menschen als aus seiner Sicht sinnvoll zu verstehen.
Ein solches Verständnis muss säkularen Charakter haben, da eine religiöse Basierung die Reichweite der Überlegungen auf die Menschen dieses Glaubens beschränken würde. Das schließt nicht aus, dass eine solche Überlegung den Wert religiöser Orientierungen insgesamt aufweist.
EigenArt des Menschen – Menschenbild[1]
Traditionelle säkulare philosophische Beschreibungen des Menschenbildes konzentrieren sich auf die (Höchst-)Leistungen, die den Menschen ausmachen, d.h. die Möglichkeit in Freiheit bewusste, vernünftige Entscheidungen zu fällen und diese kommunikativ zu rechtfertigen. Angesichts dieser Beschreibung der Spezifik der Menschen ist klar, dass hier von einer Möglichkeit der Gattung gesprochen wird, die nicht immer und nur unter sehr guten Bedingungen überhaupt erreicht wird. Es gilt deshalb die Basis zu finden, die allen Menschen ohne Ausnahme gemeinsam ist und die auch diese Höchstleistungen ermöglicht.
Die Antwort auf diese Frage ist, dass Menschen im Vergleich zu Tieren weitestgehend instinktfrei sind. Tiere wissen durch ihre Instinkte wozu sie auf der Welt sind und steuern ihr Verhalten und Lernen danach. Menschen wissen das nicht. Um aber in der Welt überleben zu können, ja um diese überhaupt wahrnehmen zu können, braucht der Mensch wie alle Lebewesen eine Orientierung, was in der Welt wichtig ist und was nicht. Wo kommt diese beim Menschen nun her, wenn die Instinkte hierfür nicht mehr zur Verfügung stehen? Aus dem mitmenschlichen Umfeld!
Von Geburt an werden Menschen nicht nur biologisch versorgt – Essen, Hygiene, Wärme – sondern auch mit Bedeutungen versorgt: wir sprechen mit Ihnen, auch wenn sie uns nicht verstehen, machen Fingerspiele, interpretieren ihr Verhalten usw. und zeigen ihnen so beginnend bei ihrem Körper ihre Welt aus unserer Perspektive (!). Die Babys nutze diese Orientierung dann für sich und bilden so ihren Blick in die Welt aus dem Material, das ihnen geboten wird. Die Bedeutungen in ihrer Umwelt werden so zu einem eigenen Sinnsystem zusammengesetzt.
Dieses Sinnsystem ist überlebenswichtig, da es den Bezugspunkt (Organisator) für die Wahrnehmungsverarbeitung darstellt, die ohne diesen zusammenbrechen würde. – Dies ist auch ein möglicher Grund für selbstverletzende Stereotypien bei beeinträchtigten Menschen. Wenn es der Umwelt nicht gelingt ihnen Bedeutungen in einer ihnen passenden Form zu bieten, sind sie ohne diese äußere Orientierung gezwungen ein eigenes sehr körpernahes Orientierungssystem zu erzeugen, dessen Ausdruck die stereotypen Handlungen sind.
Wir sehen, das für das Überleben so wichtige Sinnsystem ist an eine erfolgreiche Begegnung mit anderen Menschen gebunden. Die Teilhabe an diesen Prozessen entscheidet nicht nur über die Möglichkeit vernünftiger Entscheidungen sondern an der Basis letztlich darüber, ob ein Mensch überhaupt zum Überleben in der Lage ist, da eine völlige Verweigerung von interpretierender Kommunikation am Anfang des Lebens tötet und auch später eine zumindest psychisch existenziell bedrohliche Situation (Isolation) darstellt.
Damit ist allen Menschen die Welt nur durch die Brille ihres jeweiligen Sinnsystems zugänglich. Da dieses eine Auswahl aus der Kultur der jeweiligen Lebenswelt darstellt, wird dieser Mensch mit seinem Blick in die Welt für andere gleichzeitig auch zu einem Repräsentanten seiner Kultur. Ein von jeder kulturellen Tönung ‚reiner‘ Blick in die Welt ist Menschen nicht möglich. Ich denke, diese Überlegungen zeigen deutlich, dass menschentypische Inhalte immer solche kultureller Bedeutung, letztlich der Austausch um Werte und Normen, sind.
Selbstverständlich gibt es auch für Menschen als Lebewesen eine Vielzahl von natürlichen Notwendigkeiten, die funktionell bewältigt werden müssen: Nahrung, Schutz vor Gefahren, Reproduktion usw.. Diese Thematik der Mittel des Überlebens bis hin zur Erfindung und Beherrschung von Werkzeugen, haben Menschen mit Tieren und Pflanzen gemeinsam. Was diese aber bedeuten, die Frage nach den Zwecken, zeichnet die Menschen aus!
Damit entsteht der Pädagogik im Zusammenhang mit der Forderung nach ‚Inklusion‘ der zentrale Maßstab, allen Schülerinnen und Schülern Teilhabe im Sinne solcher Austauschprozesse zu ermöglichen, d.h. die Frage nach dem Sinn und der Bedeutung des Gelernten auch vor dem Hintergrund der jeweiligen kulturellen Herkunft, wird zur vorrangigen Frage eines Unterrichtens, der sich als ‚human‘ versteht indem er sich an dem hier vorgestellten Menschenbild orientiert.
Natürlich bleiben auch unter dieser Perspektive die vorhandenen curricularen Inhalte bestehen, die zur Beherrschung der (Menschen-)Welt notwendig sind. Die Überlegungen relativieren aber die Bedeutung der gelernten Funktionen als wesentlicher Maßstab von Pädagogik und fokussieren, für die ‚Inklusion‘ unhintergehbar, das Moment sinnbezogenen und sinnentwickelnden Lernens, letztlich der Bildung, die angesichts des mit den Notwendigkeiten der Globalisierung begründeten funktionalistischen Lernens (Output-orientierung) heute zunehmend aus dem Blick gerät.
Natürlich ist die Forderung, eine ausnahmslose Teilhabe an Bildung zu realisieren, außerordentlich anspruchsvoll und kann evtl. die Kompetenz eines Bildungsbereichs – Familie, Klasse, Wohn- und Arbeitsumfeld – überfordern. Hier müssen beratende und assistierende Hilfesysteme bereitstehen, die diese humane Normalität dennoch herzustellen ermöglichen.
EigenArt und Vielheit – die Chance eines lebendigen Austauschs
Übertragen wir nun diese allgemeinen Überlegungen auf den Bereich kulturell differenten Zusammenlebens, so wird klar, dass eine reine Akzeptanz oder Anerkennung kultureller Differenz vor dem Hintergrund dieser Überlegungen nicht ausreicht.
Das Wesentliche an dem hier beschriebenen Modell ist der fruchtbare Austausch bei fortdauernder Differenz (!). Erst dies ermöglicht allen Beteiligten sich auf der Basis ihrer Geschichte immer weiter zu entwickeln und so fruchtbare Antworten aus ihrer Kultur heraus auf die Fragen der Gegenwart zu finden. – Für Soziale Systeme gilt: Stabilität durch Flexibilität! – Das heißt es geht um ein echtes Inter-esse an der fremden Kultur und das bedeutet durchaus um wechselweise wertschätzende Auseinandersetzungen.
Die einfache Übernahme der je anderen Werte macht dabei wenig Sinn, da erstens die fruchtbare Vielfalt der Perspektiven damit kleiner wird und zweitens bei einer einfachen Übernahme einer anderen Kultur ohne Berücksichtigung der eigenen Historie, der eigenen Wurzeln die Wahrscheinlichkeit eines fundamentalistisch groben, zumindest wenig differenzierten Verständnisses der Zielkultur sehr hoch ist, womit dieser auch nicht gedient ist. Wahrscheinlich ist hier eher, dass letztlich ungelöste Probleme aus der Herkunftskultur in die Zielkultur mit übertragen werden.
Wichtig für das dauerhaft lebendige (Über-)Leben aller Kulturen ist deshalb, sich nicht abzuschotten, sondern mit Stolz auf die eigenen Werte und Produkte in einen fruchtbaren Austausch um eben diese Elemente mit anderen Kulturen einzutreten:
Was hat der Koran mit seinem Zinsverbot einer Welt der Finanzblasen zu geben, was mit dem Almosengebot, das, wirklich gelebt, dem ‚Respekt in Zeiten der Ungleichheit‘ von Richard Senett (2002) so nahe kommt, was umgekehrt das Christentum mit dem Gebot des Verzeihens aus der Bergpredigt einer Welt mit zum Teil mehrere Generationen dauernden Konflikten, was das Judentum, dessen Offenheit und lebendiger Pragmatismus der hier angestrebten Begegnung (Buber 1965) so sehr entspricht? – Wobei die politische Realität heute in allen diesen drei Bereiche, diese Werte so kaum noch erkennbar macht.
Alle sind Viele!
Kulturen befruchten sich durch wertschätzende Auseinandersetzungen gegenseitig. Sie helfen so bei Klärungs- und Anpassungsprozessen durch die Integration neuer evtl zeitgemäß passenderer Bedeutungen. Die Bedingung hierfür ist die Sicherheit des Bewusstseins von und des Stolzes auf die eigenen Werte die über die Toleranz und Anerkennung hinaus gehende Wertschätzung fremder Kulturen ermöglicht. Die Schule hat hier die Möglichkeit gerade vor dem Hintergrund heterogener Kulturen in einer Klasse letzteres durch Vermittlung von Kenntnissen über die je andere Kultur und die wertschätzende Berücksichtigung der jeweiligen Bedeutungen im Unterricht zu fördern.
Literaturverzeichnis
1 Buber, Martin (1965): Das dialogische Prinzip. 4. Aufl. Heidelberg: Schneider.
2 Rödler, Peter (2013): Menschen(ge)recht – Anthropologische Grundüberlegungen zu einer menschlichen Qualität. In: Markus Dederich, Heinrich Greving, Christian Mürner und Peter Rödler (Hg.): Behinderung und Gerechtigkeit. Heilpädagogik als Kulturpolitik. Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 37–53.
3 Sennett, Richard (2002): Respekt im Zeitalter der Ungleichheit. Berlin: Berlin-Verlag.
[1] vgl.: Rödler 2013